Leseprobe: Hirten des Todes
- Monka
- 11. Mai 2024
- 7 Min. Lesezeit
Leseprobe: Hirten des Todes: Ein Politthriller von Darius Dreiblum

Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich begriff, was wirklich mit mir passiert war. In was für eine vertrackte Situation ich mich gebracht hatte und was dies in letzter Konsequenz für mich bedeutete. Ich konnte dem nicht nur stumm zuschauen. So wie ich es früher oft getan hatte. Ich musste irgendwas machen, auch wenn es mir schwerfiel.
Dann kamen mir jedoch Zweifel. War es nicht besser, es einfach auszusitzen und abzuwarten? Mich meinem Schicksal zu ergeben? Ich konnte doch eh nichts tun. War vollkommen machtlos. Und die Idee, alles was passiert war, niederzuschreiben, war tatsächlich nur hirnrissig. Wem sollte das denn was bringen?
Ich überlegte hin und her, wurde wütend über mich selbst. Vor kurzem war ich noch stolz auf mich gewesen, dass ich so viel riskiert hatte, und jetzt wollte ich einfach den Schwanz einziehen? Nein, nein, so funktionierte das nicht.
Was wäre denn, wenn das was ich erlebt hatte, nicht weitererzählt werden würde? All das Leid, all das vergossene Blut, all die guten Menschen, die dabei ums Leben gekommen waren, wären für immer verschwunden. Ganz so, als ob es sie nie gegeben hätte. Das hatten sie nicht verdient. Das Mindeste was ich für sie tun konnte, war, die Geschichte zu erzählen. Also habe ich den Stift hervorgeholt und damit begonnen, die Worte und Sätze, die mir im Kopf schwirrten, niederzuschreiben. Das konnte ich beileibe nicht offen tun. Ich musste mir heimlich Papier besorgen und die geschriebenen Blätter sorgfältig verstecken, denn ich wurde beobachtet.
Natürlich konnte ich nicht voraussehen, ob jemand diese Worte je wirklich lesen würde. Denn das würden die Mitglieder der Oosterbeek Society versuchen zu verhindern. Aber ich hoffte darauf. Genauso wie ich darauf vertraute, dass der Inhalt dieser Seiten nicht als Hirngespinst eines Verrückten angesehen werden würde.
Mich brauchten die Leute der Geheimgesellschaft nicht mehr zu fürchten. Ich saß dank ihnen in dieser Zelle fest und wartete darauf, was weiter mit mir passierte. Mir war klar, dass ihnen hier völlig ausgeliefert war. Meine Hände zitterten bei dem Gedanken, was sie alles mit mir anstellen könnten. Ich hatte noch nie so sehr Angst, wie in diesem Moment. Nicht davor, dass sie mich töteten, sondern eher, dass sie mich misshandelten. Oft arbeiteten sie mit unerträglichen Schmerzen, um dich zu brechen. Du tatest irgendwann alles, damit diese Pein endlich aufhörte. So erging es auch Paul Altmann. Er war mein Kollege beim BAkI (Bundesamt für künstliche Intelligenz).
Durch Paul erfuhr ich das erste Mal von der Oosterbeek Society. Ich glaubte ihm damals natürlich kein Wort. Wie sollte ich auch? Jetzt bedauerte ich es, dass ich nicht auf ihn gehört hatte. Ich war zu dieser Zeit noch frisch beim BAkI. Wechselte dorthin, da es mir als ein sicherer Arbeitsplatz in unseren krisengeschüttelten Zeiten erschien. Paul arbeitete mich seinerzeit ein. Dabei entwickelte sich eine lockere Freundschaft zwischen uns. Er war ein sehr netter Kerl. Überragte mich bestimmt um einen Kopf. War groß und schlaksig. Aber auch hochintelligent. Hatte genau wie ich einen Abschluss als Robotik Ingenieur gemacht. Paul war mir auf den ersten Blick sympathisch. Er hatte eine zwanglose Art drauf, nicht wie meine anderen Kollegen. Das waren eher typische deutsche Beamte.
Ich besaß zu diesem Zeitpunkt noch die Sicherheitsstufe G, während er sich schon auf Stufe E befand. Somit besaß er vereinzelt Zugang zu Dokumenten der Geheimhaltungsstufe VERSCHLUSSSACHE – VERTRAULICH. Und Paul war neugierig. So neugierig, dass er sich auch für Dinge interessierte, die mit unserem Arbeitsbereich eigentlich gar nichts zu tun hatten. Das ging auch eine ganze Weile gut.
Doch eines Abends passierte es. Ich wollte gerade Feierabend machen, da stürzte er in mein Büro und war völlig außer sich. So aufgewühlt hatte ich Paul bis dahin noch niemals erlebt. Sein Gesicht war rot angelaufen und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Augen waren vor Nervosität ständig in Bewegung. Außerdem bemerkte ich, dass seine Hände zitterten. Ehe ich ihn fragen konnte, was geschehen war, fing er an zu erzählen:
„Du wirst nicht glauben, was mir eben passiert ist. Der Chef hat doch diese neue Sekretärin. Ulla Maier heißt die, glaube ich. Die so ein wenig gothicmäßig aussieht. Immer schwarze Kleidung an und dunkel geschminkt. Gar nicht so übel sieht die aus.“
„Ja, die kenne ich. Die ist wirklich ganz hübsch, übertreibt allerdings etwas mit der Schminke.“
„Genau die ist mir auf dem Flur begegnet. Da haben wir uns ein wenig über die Songs unterhalten, die sie derzeit hört. Schon ein bisschen abgefahren, aber auch hochinteressant. Am Schluss hat sie mir noch diese Umlaufmappe in die Hand gedrückt. Vom Chef war die schon abgezeichnet. Ulla hat bloß übersehen, dass daran ein Dokument mit dem Stempel STRENG GEHEIM hing. Das hat sie allerdings sehr bald bemerkt und kam mir nachgelaufen. Hat mir das Schriftstück wieder weggenommen.
Ich konnte trotzdem vorher einen kurzen Blick darauf werfen. Es war das Protokoll einer nicht öffentlichen Sitzung des Innenausschusses im Juni. In der Hektik konnte ich es allerdings nur überfliegen. Was mir aber sofort auffiel, war ein spezieller Tagesordnungspunkt. In der Sitzung wurde beschlossen, die Empfehlung auszusprechen, die Zuleitung des besagten Alkalimetalls wie geplant zu erhöhen, um die Gefährdung der kritischen Infrastruktur zu minimieren und widerstrebende B.t. ruhig zu stellen. Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Ich befürchte, das heißt, dass wir mit dem Wissen unserer Regierung vergiftet werden oder warum sollten sie sonst ein Alkalimetall einleiten, um aufsässige Bevölkerungsteile zu besänftigen?“
„So verstehst du das also? Mir kommt da eine ganz andere Bedeutung in den Sinn. Kann es nicht einfach sein, dass dieses Alkalimetall dazu benutzt werden soll, Bauteile von einsturzgefährdeten Gebäudeteilen der vorhandenen Infrastruktur zu stabilisieren. Wenn ich in der Schule richtig aufgepasst habe, werden Alkalimetalle doch dazu genutzt, verschiedene Arten von Metallen zu härten, oder nicht?“
„Ja, das stimmt. Aber eines der Alkalimetalle wird in seiner Form als Salz auch zur Dämpfung der Impulsivität und zur Verringerung des Aggressionspotenzials verwendet. Das Lithium.“
„Und du meinst ernsthaft, sie führen dieses Lithiumsalz dem Trinkwasser zu, um Aufstände zu verhindern und die Bevölkerung ruhig zu stellen? Und das hier in unserem Land, wo so viel Zufriedenheit und Wohlstand herrschen? Das ist doch ziemlich abwegig, oder meinst du nicht?“
„Das wäre vielleicht nur der erste Schritt.“
„Und was wäre der zweite?“
Jetzt wurde Paul still. Entweder konnte er es nicht einschätzen, ob er mir soweit vertrauen konnte, dass er mir auch den zweiten Schritt ohne Angst erzählen konnte, oder er kannte den zweiten Schritt nicht. Von Letzterem war ich zu diesem Zeitpunkt vollkommen überzeugt. Paul wusste nicht mehr weiter. Somit war unsere Diskussion beendet und Paul ging mir eine Weile aus dem Weg. Zumindest bis zu jenem Tag an dem er spurlos verschwand.
Diesmal war es früher Morgen, als er zu mir kam und mich darum bat, nach Feierabend mit ihm noch etwas trinken zu gehen. Paul sah sehr blass und ziemlich übernächtigt aus. Genau wie beim letzten Mal, fanden seine Augen keine Ruhe. Als ich von ihm wissen wollte, ob es einen besonderen Anlass für dieses Treffen gab, hielt er seinen Zeigefinger vor den Mund und schüttelte den Kopf. Das sollte wohl heißen, dass er mir das erst heute Abend erklären wollte. Ich lächelte ihn daraufhin an und sagte:
„Ja, das können wir gerne machen. Treffen wir uns kurz nach sieben bei Angelo?“ Er nickte und war dann wieder weg.
Als ich ein paar Minuten später als vereinbart an diesem Abend in die Kneipe kam, saß Paul schon an einem Tisch in der dunkelsten Ecke des Lokals und kaute nervös Fingernägel. Sein Blick schweifte in dem gut gefüllten Raum hektisch von einem Gast zu dem anderen. Dann entdeckte er mich und versuchte zu lächeln. Es gelang ihm nur ansatzweise. In diesem Moment sah ich in seinen Augen, dass Paul Angst hatte. Eine tief gehende schreckliche Furcht. Gleich darauf stand er auf, kam auf mich zu und umarmte mich zur Begrüßung.
Nach den geleerten Gläsern auf dem Tisch zu urteilen, hatte er zu dieser Zeit schon mindestens drei Bier intus und eine gewisse Schwere erreicht. Das sah ich auch seinem Gang an. Außerdem brannte ihm etwas auf den Fingernägeln, was er mir unbedingt erzählen wollte. Denn sobald ich mir etwas zu trinken bestellt und mich zu ihm gesetzt hatte, fing er auch schon an zu sprechen:
„Du kennst doch sicherlich 1984?“
„Du meinst das Buch von George Orwell?“
„Ja, genau.“
„Ja, das kenne ich. Was ist damit?“
„Das ist alles real, nur noch tausendmal schlimmer.“
„Du meinst, dass Deutschland ein totalitärer Überwachungsstaat ist?“
„Nicht nur Deutschland. Die ganze Welt wird von ihnen kontrolliert.“
„Von wem?“
„Es gibt eine kleine Anzahl von Menschen, die alles über dich wissen und denen so gut wie die ganze Welt gehört. Die sogenannte Oosterbeek Society. Keiner weiß, wie sie aussehen und keiner weiß, wer sie sind. Aber es gibt sie. Und sie sorgen dafür, dass sich die Menschen in Sicherheit wiegen und nichts davon mitbekommen, dass sie eigentlich über keinen freien Willen mehr verfügen. Die Menschen geben freiwillig alles über sich preis und werden dadurch lenkbar. Können ganz leicht zu dieser oder jener Handlung gebracht werden. Das geschieht mit Hilfe modernster Computersysteme und der Medien, die übrigens alle gekauft sind.“
„Du weißt, dass sich das ziemlich verrückt anhört? Hast du denn irgendwelche Belege dafür?“
„Ja, ich habe inzwischen eine Menge von Beweisen zusammengetragen. Sowohl in Papierform als auch digital. Aus Sicherheitsgründen habe ich sie aber nicht bei mir. Es wäre zu gefährlich. Sie wissen, dass ich ihnen auf die Schliche gekommen bin und lassen mich deswegen überwachen. Ich habe die Dokumente an einem sicheren Ort untergebracht. Aber das wird sie wahrscheinlich nicht davon abhalten, mich zur Strecke bringen zu wollen. Doch ehe sie das tun, muss ich mich irgendjemanden anvertrauen. Und dabei ist meine Wahl auf dich gefallen. Dir vertraue ich.“
Ich war mir in diesem Augenblick nicht sicher, ob ich mich über diese Ehre geschmeichelt fühlen sollte, oder ob es nicht besser wäre, schnellstmöglich das Weite zu suchen. Denn das klang alles ziemlich irre. Doch dann sah ich den verzweifelten Blick in Pauls Augen und blieb sitzen. Schließlich hatte er mich stets gut behandelt, war ein sehr netter Kollege und auch ein Freund.
Gerade setzte Paul an, mir ausführlich von den Dingen zu erzählen, die er herausgefunden hatte, da löste ein panischer Blick, der auf etwas hinter meinem Rücken gerichtet war, den eben noch verzagt wirkende Ausdruck auf seinem Gesicht ab. Als ich mich umdrehen wollte, um zu sehen, wer oder was diese Reaktion bei ihm ausgelöst hatte, hielt er meine Hand fest und sagte:
„Dreh dich jetzt nicht um! Wenn sie merken, dass du etwas von ihnen weißt, bist du deines Lebens nicht mehr sicher.“
Also ließ ich es bleiben und wartete darauf, dass Paul mir weitere Anweisungen gab. Die blieben jedoch aus, denn sein Gesicht war von einem Moment auf den anderen schmerzverzerrt. Er hielt sich mit beiden Fäusten so fest seine Schläfen, als ob sein Kopf drohte auseinanderzuplatzen. Voller Mühe und laut stöhnend stammelte er:
„Mein Kopf tut so weh. Das ist nicht auszuhalten. Jeden Tag überkommen mich diese schrecklichen Schmerzen, seitdem ich die Wahrheit entdeckt habe. Die wollen mich um den Verstand bringen. Ich kann nicht mehr. Muss hier raus.“ Kaum hatte er das hervorgestoßen, rannte er wie ein Wilder zur Ausgangstür und war kurz darauf verschwunden. Das war vorerst das letzte Mal, dass ich Paul gesehen habe. In diesem Augenblick ahnte ich noch nicht, dass sich ab diesem Tag die Ereignisse überstürzen und ich Dinge erleben würde, die ich mir auch in meinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können.
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